22. Kapitel
In der Nähe von Baltimore, Maryland 24. Februar
Das Wetter hatte sich leider nicht an die Vorhersage gehalten, dass es ein wunderschöner Spätwintertag werden würde. Reverend Simon Blake stellte die Geschwindigkeit der Scheibenwischer höher, da eisige Regentropfen wie Käfer gegen seine Windschutzscheibe klatschten.
Er verringerte das Tempo auf knapp fünfundfünfzig Meilen und blickte nervös in den Rückspiegel. Sein Verfolgungswahn und seine Depressionen hatten in den letzten Wochen derartige Ausmaße angenommen, dass seine Frau schon außer sich vor Sorge war. Das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegen schaute, war fast nicht wiederzuerkennen. Die zwanzig Pfund, die er abgenommen hatte, hatten sich zwar vorteilhaft auf seinen Bauch ausgewirkt, aber seine Züge waren hager geworden, und mit seinen rotgeränderten Augen und dem Bartschatten sah er aus wie ein völlig anderer Mensch.
Er schüttelte heftig den Kopf und riss den Blick von seinem Spiegelbild los, aber das andere Bild ließ sich nicht vertreiben, denn Gott selbst hatte es ihm geschickt, und es war ein Bild der Hölle. Es zeigte Menschen, die sich in Qualen auf einem asphaltierten Spielplatz wanden, und hinter ihnen lachte die Fratze Satans. Andere hatten in den Fernsehberichten nur ein heruntergekommenes Wohngebäude gesehen. Er wusste es besser. Es war nicht Gott gewesen, der ihn diesen Weg geschickt hatte, sondern sein uralter Widersacher.
In einiger Entfernung sah er ein Motel und nahm die nächste Abfahrt. Der Mercedes rauschte zischend durch eine große Pfütze, als er auf den Parkplatz hinter dem Gebäude fuhr und zwischen zwei Lastern parkte, da er hoffte, dort würde sein Fahrzeug weniger auffallen.
Blake atmete tief durch und stieg aus. Durch den Regen lief er auf Zimmer 115 zu und merkte erst vor der Tür, dass er unbewusst den Atem angehalten hatte. Energisch klopfte er. Die Tür schien sich wie von selbst zu öffnen, und er trat ein.
»Schönen guten Tag, Reverend«, sagte John Hobart. Er hatte sich dicht an die Wand gedrückt, sodass man ihn bei halb geöffneter Tür nicht sehen konnte.
»Das muss aufhören, John.«
Hobart ging an ihm vorbei und setzte sich an einen Tisch. Er griff nach einer Dose Coke und nahm einen tiefen Schluck. Mit der freien Hand deutete er auf den Stuhl ihm gegenüber. Blake nahm Platz.
»Hat Sie jemand kommen sehen?«
Blake schüttelte den Kopf. »Der Parkplatz war leer. Es regnet in Strömen.«
»Mit welchem Auto sind Sie hier?« Er wusste, dass Blake einen Cadillac mit dem auffälligen Nummernschild AMEN fuhr.
»Mit Ericas Wagen.«
Hobart stellte die Dose ab. »Die ganze Sache ist keine so gute Idee, Reverend. Für Sie, meine ich. Sie riskieren dabei eine Menge.«
»Ich weiß, aber ich musste unbedingt mit Ihnen reden.« Blake blickte stumm durch den Raum, obwohl es nichts zu sehen gab. Hobart kannte diese Angewohnheit; er hatte es Hunderte Male erlebt – der Reverend bereitete sich auf eine Rede vor.
»Ich habe vor ein paar Tagen einen Fernsehbericht gesehen. Es sah aus, als habe die Hand Gottes zugegriffen, und die Leiber der Menschen wanden sich in diesem unbarmherzigen Griff.« Sein Blick war leer geworden. Er schien gar nicht mehr zu wissen, dass Hobart noch im Zimmer war.
»Lassen Sie mich das erklären, Reverend …«
»Zwanzigtausend Menschen sind tot, John. Ich habe gehört, dass zwanzigtausend Menschen tot sind.« Endlich schaute er ihn an. »Es muss aufhören, John. Das muss augenblicklich aufhören.«
Hobart schob die halb leere Coladose mit dem Zeigefinger auf dem Tisch herum.
»Bisschen zu spät dafür, finden Sie nicht?« Es war eine rein rhetorische Frage. Er würde sich von niemandem den Erfolg dieser Operation verderben lassen.
»Das muss augenblicklich aufhören«, wiederholte Blake.
Hobart schaute ihn an und unterdrückte ein Lächeln. Blakes Stimme klang dünn, er sah krank und schwach aus. Sein Versuch, ihm Befehle zu erteilen, war ein Witz. Der gute Reverend hatte ihm gar nichts mehr zu sagen.
»Haben Sie den Bericht gesehen, den CNN heute gesendet hat?«
Blake schüttelte den Kopf. »Hören Sie, was ich sage, John? Wir müssen …«
Hobart schnitt ihm das Wort ab. »Darin wurde eine anonyme Quelle aus der DEA zitiert. Der Kokainkonsum bei Gelegenheitsverbrauchern ist um siebzig Prozent gesunken – bei gewohnheitsmäßigen um fünfunddreißig. Der Heroinkonsum ist um vierzig Prozent gesunken. Die Anmeldungen in Entzugskliniken sind um neunhundert Prozent gestiegen, sodass die Leute dort schon auf dem Boden schlafen müssen.« Er trank sein Cola aus und warf die leere Dose quer durch den Raum in einen Papierkorb.
»John, haben Sie mich nicht gehört? Zwanzigtausend Menschen sind tot! Wir haben zwanzigtausend Menschen umgebracht!«, rief Blake verzweifelt und ließ den Kopf in die Hände sinken.
»Herrgott, Reverend. Es gibt in den USA jeden Tag rund fünfzig Todesfälle, die irgendwie im Zusammenhang mit Drogen stehen – rechnen Sie das mal auf ein Jahr hoch. Was sind dagegen schon diese Zwanzigtausend?« Er musterte Blake beinahe mit so etwas wie Mitgefühl. »Außerdem ist der erste große Schlag nun vorbei. Die Leute wissen, dass wir es ernst meinen. Jetzt brauchen wir nichts weiter zu tun, als hier und da ein paar Sendungen zu vergiften, damit die Leute weiterhin Angst haben. Sie wollen doch jetzt nicht wirklich aufhören? Dann wären all diese Menschen umsonst gestorben. Der Drogenmissbrauch würde sofort wieder ansteigen, und alles wäre wie vorher.«
Blake nickte und schaute sich erneut im Zimmer um. Seine gesamte Haltung hatte sich plötzlich verändert. Er war bleich, aber gefasst, und ein wenig spürte man wieder die energische Persönlichkeit des Fernsehpredigers.
»Was haben Sie während dieser zweiten Phase vor?«
Hobart entspannte sich ein wenig. »Eigentlich nicht besonders viel. Wir werden vielleicht alle vier Wochen eine Lieferung vergiften. Ich wollte mir demnächst auch einiges von dem Zeug vornehmen, das hier fabriziert wird. Amphetamine, Ecstasy und solchen Dreck. Haben Sie schon mal von Anthony DiPrizzio gehört?«
Blake nickte. »Irgendein Mafiaboss in New York.«
»Genau. Ich habe einen Mann, der in einem seiner Lagerhäuser am Hafen arbeitet. Es heißt, dass am achtundzwanzigsten dort eine beträchtliche Sendung Koks eintrifft. Ich habe ihn beauftragt, sie zu vergiften. Danach ist dann erst mal einen Monat lang Ruhe.«
Blake stand auf und ging zur Tür. Er griff nach der Klinke, doch dann wandte er sich noch einmal um. »Wo, um alles in der Welt, haben Sie nur dieses Gift aufgetrieben? In den Zeitungen heißt es, es dauert zwei Wochen, bis es wirkt.«
»Das war nicht ganz leicht. Ein paar Stunden westlich von Warschau .«
»In Polen?«
»Ja.«
Blake öffnete die Tür. Die Wolken waren aufgerissen, und die Sonne blendete ihn, als er zu seinem Wagen ging. Tief holte er Atem, legte seinen Kopf auf das Lenkrad und bekämpfte den Drang, sich zu übergeben. Das Bild der Hölle stand ihm wieder vor Augen. Konnte er das, was er getan hatte, in den Augen des Herrn jemals wieder abbüßen?